Archivbeitrag aus: Das Parlament, 33/1964
Der Parlamentsstenograph und seine Aufgaben
Das ganze politische Vokabular mit der Disengagement-Politik und der Europäischen Integration, der UN-Charta und dem Godesberger Programm, der EWG und der EFTA, dem GATT und der Kennedy-Runde kommt ihnen in die Feder. Es wird von der Haager Landkriegsordnung und von Logistik gesprochen, von Inkompatibilität und vom Nominalismus, vom d'Hondtschen Wahlmodus und von der Franckensteinschen Klausel. Die Peinliche Gerichtsordnung wird erwähnt und das Strafgesetzbuch als „un codice dei malfattori" bezeichnet. Der Athener Gerbermeister Kleon und Graf Montgengelas, Keynes und Thünen, Tocqueville und Manfred Kyber und jeder und alles werden ins Feld geführt. Man muß also nicht nur im Zeitgeschehen mit seinen Männern, Ereignissen und Ideen bewandert sein, sondern sich auch in Historie und Literatur umgesehen haben, von Juristerei, Volkswirtschaft und den Sozialwissenschaften ganz zu schweigen, – wenn man sich als Parlamentsstenograph betätigt.
Sie arbeiten im Schatten der Akteure der Politik, diese Chronisten auf parlamentarischer Bühne. Auf jene fällt das grelle Licht der Scheinwerfer, wenn das Haus sich zu großen Disputen versammelt, diese erscheinen am Rande des Bildes, um das Geschehen für den Tag und die Zeiten festzuhalten. Ob sich Minister und Staatssekretäre in einem Wechsel von Fragen und Antworten den Abgeordneten stellen oder die Sachverständigen einer speziellen Materie eine Art Kolloquium halten, ob scharfe dialektische Mensuren die Gemüter aufpeitschen oder ein monotones Dahinplätschern eine müde Atmosphäre über den Saal breitet, in ewigem Wechsel tauchen zwei Parlamentsstenographen in dem Rund vor der Rednertribüne des Bonner Plenarsaales aus der Versenkung empor, werfen zehn Minuten hindurch das Gesprochene in Sigeln aufs Papier und treten, wenn sie abgelöst sind, ebenso unauffällig von der Szene wieder ab.
Gerät man an Plenartagen in den Präsidentenflügel des Bundeshauses: aus den Räumen des Stenographischen Dienstes dringen die akzentuierten Stimmen der Diktierenden und das Rattern der Schreibmaschinen. Im Geschäftszimmer, wo die Niederschriften ein- und auslaufen, ist ein dauerndes Kommen und Gehen. Die als Redakteure fungierenden Senioren des Dienstes, die schon im Reichstag tätig waren, brüten vor ihren Schreibtischen über den Niederschriften und bereiten sie für den Druck vor. Im ganzen ein auf einen genauen Zeitplan abgestimmter, rationell arbeitender Fließbetrieb, immer unter Zeitdruck und zuweilen von nervöser Hast geschüttelt.
Fertigkeit allein tut es nicht
Eine Stunde nach Schluß jeder Sitzung – sie mag noch so lange währen – liegt der getippte, am nächsten Tag der gedruckte Verhandlungsbericht vor mit seinen 20, 50, 100 und mehr Seiten im DIN-A4-Format. In einer Auflage von 3500 bis 4000 Stück herausgebracht, geht er den Abgeordneten und den Ministerien, den Ländervertretungen und den ausländischen Missionen, den Parteien und der Presse, den Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften, Büchereien und Interessenten aller Art zu. Er ist das vollständige, authentische Zeugnis der Verhandlungen, für deren Publizität Presse und Rundfunk ihrerseits sorgen.
Was an fachlichem Können, Wissen und Erfahrung hinter dieser Arbeit steckt, davon erhält man eine ungefähre Vorstellung, wenn man die Zeitschrift des Verbandes der Parlaments- und Verhandlungsstenographen, die „Neue Stenographische Praxis", durchblättert und liest, welche fachlichen Fragen dort behandelt werden. Natürlich muß die technische Fertigkeit da sein. Wie in vielen Berufen, so gibt es auch unter denen, die stenographieren, viele Grade des Könnens: von der Stenotypistin und der Sekretärin über die Geschäftsstenographen zu denen, die sich bei Presse und Rundfunk der Stenographie bedienen, bis zu den Virtuosen, die im Parlament das fliehende Wort festhalten. An der Spitze der Pyramide sind es, wie bei den Konferenzdolmetschern, nur ein paar Dutzend wahre Könner. Das ist in London und Paris, in Rom und im Haag, in Brüssel und in Wien, wie die zu den Tagungen der europäischen Parlamente herangezogenen Bundestagsstenographen von ihren Kollegen hören, nicht anders.
Die Allerweltsfrage nach ihrer Silbenleistung – sie bewegt sich um die 400 herum – wollen sie nicht gelten lassen. Das verschiebe den Akzent einer häufig recht sauren Berufsarbeit, bei der es mindestens ebenso auf ein solides Wissen und große Belesenheit, auf gute Sprachschulung und sozusagen ein kongeniales Mitdenken ankommt, um den Inhalt einer Rede unter Kontrolle zu haben. „Prendre c'est comprendre", sagen die Franzosen, was bedeutet, daß man hier mit dem Kopf stenographieren muß. Bringt man aber das Gespräch auf Silbenrekorde, dann lächeln die Parlamentschronisten hintergründig wie die Auguren: davon werde vielzuviel Wind gemacht. Mit ausgesuchten Texten, großzügiger Bewertung von Übertragungsfehlern, die in der Praxis unverzeihliche Pannen bedeuten, und allen möglichen und unmöglichen Hilfen kann man Bedingungen hinzaubern, wie sie die raue Wirklichkeit nicht kennt. So mancher von seinen Systemgenossen hochgelobte Silbenprotz ist denn auch, wenn aus der Sportfexerei ernst wurde, von der rhetorischen Brandung mit ihren prasselnden Zwischenrufen überrollt worden.
Universale Bildung und Sprachgefühl sind notwendige Voraussetzungen
Unerläßlich ist es, das Gehörte beim Abdiktieren und Vorbereiten für den Druck auf Inhalt und Form hin zu prüfen. Versprecher und offensichtliche Irrtümer, die jedem einmal im Eifer der Rede unterlaufen können, erfordern Richtigstellung. Als eine Abgeordnete das Wort „Ich habe einen guten Kampf gekämpft" dem Apostel(!) Timotheus zuschrieb, wurde im Sitzungsbericht richtig von dem Brief des Apostels Paulus an Timotheus gesprochen. Als bei einer Aussprache über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ein Abgeordneter von der „EWG-Mechanik" sprach, nach der alle paar Jahre die „Steuern"(!) gesenkt werden, wurde daraus in der Niederschrift in mitternächtlicher Stunde „Zölle", wie es der Redner gemeint hatte. Und wenn ein Redner auf der Parlamentstribüne das „intra muros peccatur et extra" aus verzeihlichem Irrtum Vergil zuschreibt, dann ist Horaz zu der ihm gebührenden Ehre zu verhelfen. Bleiben sachliche Zweifel, die nicht behoben werden können, wird der Redner durch einen Hinweis in der Niederschrift darauf aufmerksam gemacht oder bei der Druckvorbereitung befragt. Auf diese Weise werden Rechenexempel, bei deren Vortrag Zahlen nicht stimmen, in Ordnung gebracht.
Natürlich müssen die amtlichen Berichterstatter, wie die Stenographen in den angelsächsischen Parlamenten zutreffend heißen, die Rede äußerlich in Form bringen. Da ist das Gesagte gemäß den Gedankengängen in Absätze zu gliedern, Punkte, Kommata und andere Satzzeichen sind zu setzen, beiläufig Gesagtes in Parenthese zu kleiden. Zitate, bei denen man beim Hören zuweilen nicht weiß, wo sie enden und wo der Kommentar beginnt, müssen möglichst überprüft und als solche in der Niederschrift gekennzeichnet werden. Beifall, Widerspruch, Zurufe, Heiterkeit und andere Momente, die das Geschehen verdeutlichen, sind zu vermerken.
Nicht zuletzt hat es der Parlamentsstenograph bei der Wiedergabe von Reden mit sprachlichen Fragen aller Art zu tun. Viele Reden bedürfen infolge klaren Gedankenganges und einwandfreier Form keiner bessernden Hand. Nicht jeder meißelt aber seine Sätze druckreif. Wer es mit der öffentlichen Rede zu tun hat, weiß, daß einem Sprecher – wer hebt hier den Stein auf? – einmal ein sprachlicher Schnitzer unterläuft, eine Wendung mißglückt oder er für einen Gedanken im Augenblick nicht den gewollten Ausdruck findet. Die Geschäftsordnung aller Parlamente sieht ja aus gutem Grunde das Korrekturrecht vor, wonach an dem Sinn einer Rede nichts geändert, wohl aber die sprachliche Form geglättet werden kann. Da ist den Abgeordneten, die in der kurzen Frist von zwei Stunden die Rednerniederschriften zum Teil nur überfliegen oder aus Zeitmangel überhaupt nicht prüfen können, die Arbeit am Wortlaut, die man jedem Redakteur zugesteht, eine willkommene, wiederholt ausdrücklich erbetene Hilfe. Ein internationaler beruflicher Erfahrungsaustausch lehrt, daß es in den Parlamenten des Commonwealth, im amerikanischen Kongreß und bei den Vereinten Nationen ebenso ist.
Es ist selbstverständlich, daß die Sätze grammatikalisch einwandfrei sein müssen. Manchmal ist das Verhältniswort ungeeignet, ein andermal paßt das Zeitwort nicht zum Hauptwort. Usus tyrannus est, sagt Horaz von der Sprache, was besagt, daß sie eine Konvention ist, über die man sich nicht hinwegsetzen kann. Mängel der Syntax, die dem Hörer nicht bewußt werden, wenn das Verstehen den Worten voraneilt, nachhinkt oder wenn er in sie etwas hineinhört, springen dem Leser in die Augen. In der freien Rede zerreißt hier ein Anakoluth den Zusammenhang, dort will ein Bandwurmsatz nicht enden. Der Prüfende hat es mit falsch gebrauchten doppelten Verneinungen und Wiederholungen zu tun, mit weitgehenden Verschachtelungen und Pleonasmen. Er muß darauf achten, daß in einem Relativsatz das richtige Beziehungswort steht. Es gibt Wortstellungen, die beim Sprechen durch Betonung oder Pausen den Sinn des Satzes nicht beeinträchtigen, im geschriebenen Text aber zu Mißverständnissen führen. Ein schiefes Bild („die Eier sind mit den Preisen in die Höhe gegangen") ist geradezurücken, eine Wortverknüpfung wie „Ich muß mich entschieden gegen die lebenden Viehzölle wenden" ist zu lösen. Übrigens heißt es immer noch „Außenhandelsstelle für Erzeugnisse der Ernährung (!) und Landwirtschaft". Der Fragen, die zu Überlegungen veranlassen, gibt es viele bis zur sprachlichen Logik. Es ist ja kein Zufall, daß es ein Reichstagsstenograph – Professor Eduard Engel – gewesen ist, der im Jahre 1911 die erste große „Deutsche Stilkunst" veröffentlicht hat. Parlamentsstenographen haben also nicht nur eine hervorragende technische Fertigkeit und wissenschaftliche Vorbildung als Juristen, Volkswirte oder Philologen nachzuweisen, sondern müssen auch eine enge Beziehung zur Sprache gewinnen.
Warum nicht einfach Tonband?
Bundestagsbesucher, die die unsichtbare Arbeit hinter der Parlamentstribüne nicht kennen, kommen prompt mit der Frage, warum nicht das Tonband das Stenographieren überflüssig mache. Natürlich ist das Tonband eine Hilfe, wenn man einen undeutlich gesprochenen Passus noch einmal hören will. Die Technik hat aber hier ihre Grenzen, sie macht den qualifizierten Mann auch nicht überflüssig und führt nicht zu einem rationellen Verfahren mit einer Ersparnis an Zeit und Kraft. Einmal sind die idealen Bedingungen eines Rundfunkstudios für eine Bandaufnahme bei parlamentarischen Verhandlungen nicht gegeben. Zum anderen muß der Bericht vollständig sein, das ganze Geschehen wiedergegeben und auf schnellstem Wege angefertigt werden. Da ergeben sich beim Tonband Überlagerungen, wenn das Präsidentenmikrophon während einer Rede noch nicht abgeschaltet wird, und Lücken, wenn es zu spät eingeschaltet wird. Zuweilen wird auch daran vorbeigesprochen, wenn der Redner sich mit einem Zwischenrufer auseinandersetzt. Vor allem erreichen Zwischenrufe – das Salz der parlamentarischen Aussprache – nur zu einem sehr geringen Teil das Rednermikrophon und damit das Band. Gleichzeitige spontane Äußerungen mehrerer Abgeordneter ergeben einen „Wortsalat". Der Mensch kann dagegen selektiv hören und sich auf eine Auseinandersetzung, die den roten Faden der Verhandlung darstellt, einstellen und oft dem Redner die Worte „vom Munde ablesen". Im amerikanischen Repräsentantenhaus wandern die amtlichen Berichterstatter trotz Lautsprecherübertragung im Saale herum und setzen sich auf einen freien Platz in der Nähe des Redners.
Gesten, Momente und Vorgänge, die nur visuell wahrnehmbar sind, verzeichnet das Tonband nicht. Der Berichterstatter hat aber die Namen von Rednern und Zwischenfragestellern, die der Präsident nicht genannt hat, und möglichst auch von Zwischenrufern – oft bei einem schnellen Wortwechsel – festzuhalten. Der Parlamentsbericht muß u. a. auch vermerken, wer Zustimmung, Beifall, Widerspruch, Mißfallen oder Lachen äußert und welches das Ergebnis einer Abstimmung ist, wenn der Präsident es nicht ausdrücklich verkündet. Von den Sitzungen des Ministerrats der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in Brüssel heißt es, daß Bandaufnahmen oft „sehr ungenau, überlagert, weniger verifizierbar und im allgemeinen für die praktische Protokollherstellung keine Grundlage seien", weshalb dort Protokollführer tätig sind, wenn auch ein Band läuft.
Solche Mängel einer Bandaufnahme sind für einen qualifizierten Stenographen nicht oder in sehr geringem Maße gegeben. Nach der Aufnahme stellt er aus einen Notizen unter sachlicher Überprüfung, formaler Bearbeitung und Ausmerzung sprachlicher Unebenheiten in e i n e m Arbeitsgange eine Niederschrift her. Benutzt man ein Band – und das ist sehr wesentlich –, sind für die Anfertigung eines Berichtes mehrere Arbeitsgänge erforderlich. Zunächst muß eine Sekretärin das Gesprochene vom Band abnehmen, was weit mühevoller und zeitraubender als ein Diktat und nicht gerade beliebt ist. Die Geschwindigkeit der Reden erfordert ein dauerndes Stoppen, Niederschreiben und Wiederingangsetzen des Geräts und bei Unklarheiten ein wiederholtes Abhören. Rückfragen sind nicht möglich, so daß Lücken oder Zweifel bleiben. Die Sekretärin hat es hier ja mit schwierigen Satzgebilden, ihr unbekannten Begriffen und fremdsprachlichen Ausdrücken und Zitaten zu tun. Gerade Parlamentsstenographen haben ein gerüttelt Maß von Erfahrung darin, wie leicht es Hör- und Übertragungsfehler gibt. Da wurde „dessen Tendenztheorie" statt „Deszendenztheorie" niedergeschrieben. „Bewegung des Bodens zum besten wird" statt des volkswirtschaftlichen Gesetzes „Bewegung des Bodens zum besten Wirt", und mit der Hegelschen „List der Idee" war die Schreiberin auch überfordert und übertrug „Lister Idee".
Diese erste Niederschrift muß also von einem qualifizierten Bearbeiter überprüft werden, wobei das Tonband im allgemeinen nochmals ablaufen muß, um überhaupt erst einmal festzulegen, was gesagt worden ist. Dann folgt unter vielen Korrekturen die sachliche, formale und sprachliche Bearbeitung des Wortlauts, der schließlich erneut abgeschrieben oder diktiert werden muß. Drei, wenn nicht vier Arbeitsgänge und ein großer Aufwand an Kräften und Zeit sind also dabei nötig. Noch unrationeller wäre das Verfahren bei Ausschußsitzungen, über die im Parlament in der Regel je nach Wichtigkeit mehr oder weniger gekürzte stenographische Berichte angefertigt werden.
Das praktische Ergebnis ist, daß das Tonband zwar in einer Reihe von Parlamenten zu Archiv- und Kontrollzwecken mitläuft, die stenographische Aufnahme aber die Grundlage bleibt. Parteien und politische Organisationen, Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften, wissenschaftliche Vereinigungen und Industriegesellschaften lassen Tagungen und Generalversammlungen nach wie vor oder – nach Erfahrungen mit der Bandaufnahme – wieder von Verhandlungsstenographen aufnehmen, die deshalb oft in Terminschwierigkeiten geraten. Den Parlaments- und Verhandlungsstenographen bietet sich also auch heute ein weites Feld der Betätigung.