VERBAND DER PARLAMENTS- UND VERHANDLUNGSSTENOGRAFEN E.V.

Geschrieben von: Dr. Wolfgang Poppy (Berlin)
aus: NStPr 71/3-4 (2023), S. 89–93

Folge 9: Das Reflexivpronomen „sich“ – an und für sich unscheinbar

Das Reflexivpronomen „sich“ ist im Sprachalltag allgegenwärtig, denn es ist mit dem Handeln aller Menschen vielfältig verbunden. Man kann sich ablenken, sich amüsieren, sich anstrengen, sich austoben, sich begeistern, sich beklagen, sich bekleckern, sich bereichern, sich betrinken, sich einlassen, sich erfreuen, sich erholen, sich erinnern, sich informieren, sich irren, sich kämmen, sich kümmern, sich rasieren, sich quälen, sich schminken, sich verkleiden, sich verfahren, sich verlaufen, sich waschen und vieles andere mehr.

Das sieht übersichtlich aus. Im Sprachalltag gibt es aber gängige Besonderheiten, die Beachtung und Klärung verdienen – ungeachtet der Tatsache, dass sie kaum zu Missverständnissen führen. Entbehrliche Reflexivpronomen sollten vermieden werden, auch wenn sie im Sprachgebrauch allgemein üblich sind.

Einem Menschen A, der erklärt, sich im Urlaub gut erholt zu haben, wird ebenso geglaubt wie einem Menschen B, der in einem Telefongespräch berichtet, sich seinen linken Arm gebrochen zu haben. Niemand wird annehmen, dass der Mensch B sich seinen Arm selbst gebrochen hat, obwohl er das – genau genommen – behauptet hat. Jeder versteht, dass diesem Menschen ein ungewolltes Missgeschick widerfahren ist.

1 Zuordnung des Reflexivpronomens „sich“ zum falschen Verb


Mitunter werden dem Reflexivpronomen „sich“ in mündlichen und schriftlichen Äußerungen Plätze zugewiesen, an denen dies zu unklaren oder falschen Aussagen führt.

  • Dann hat man sich angefangen mit dem Ursprung der Sprache zu befassen.

Dann hat man angefangen, sich mit dem Ursprung der Sprache zu befassen.

  • Während sich die Autorin kaum noch aus ihrem Hotelzimmer wagt, beginnt sie sich erstmals, der Frage zu stellen, die sie an die Grenzen ihrer Lebenskraft führen wird.

Die Autorin „beginnt sich“ nicht, sondern sie „stellt sich“.

Während sich die Autorin kaum noch aus ihrem Hotelzimmer wagt, beginnt sie erstmals, sich der Frage zu stellen, die sie an die Grenzen ihrer Lebenskraft führen wird.

  • Zunächst herrscht Bewölkung, die sich beginnt im Laufe der Nacht aufzulösen.

Kann Bewölkung sich beginnen?

Zunächst herrscht Bewölkung, die beginnt, sich im Laufe der Nacht aufzulösen.

Zunächst herrscht Bewölkung, die im Laufe der Nacht beginnt, sich aufzulösen.

Kann Bewölkung beginnen?

Zunächst herrscht Bewölkung, die sich im Laufe der Nacht (allmählich) auflöst.

  • Nachdem die Mietpreisbremse schon fast anderthalb Jahre gilt, beginnen sich langsam auch die ersten Gerichte mit den Regelungen auseinanderzusetzen.

Beginnen „sich“ die Gerichte, oder „setzen sie sich auseinander“?

Nachdem die Mietpreisbremse schon fast anderthalb Jahre gilt, beginnen langsam auch die ersten Gerichte, sich mit den Regelungen auseinanderzusetzen.

  • Während sich das Ehepaar gegenseitig für alle erdenklichen Verfehlungen beschimpft, beginnt sich der Sack auf dem Boden zu bewegen.

Während sich das Ehepaar gegenseitig für alle erdenklichen Verfehlungen beschimpft, beginnt der Sack, sich auf dem Boden zu bewegen.

Treffender: Während sich das Ehepaar gegenseitig für alle erdenklichen Verfehlungen beschimpft, beginnt der Sack auf dem Boden, sich zu bewegen.

  • Dort herrschen Unruhen, die sich drohen über das ganze Land auszudehnen.

Dort herrschen Unruhen, die drohen, sich über das ganze Land auszudehnen.

Dort herrschen Unruhen, die sich über das ganze Land auszudehnen drohen.

  • Die Landesregierung, die sich unter dem Schutzmantel parlamentarischer Mehrheiten meint, auf die Macht des Faktischen verlassen zu können, sollte …

Die Landesregierung, die unter dem Schutzmantel parlamentarischer Mehrheiten meint, sich auf die Macht des Faktischen verlassen zu können, sollte …

Außer dem Pronomen „sich“ kann auch der Rest des Nebensatzes verschoben werden:

Die Landesregierung, die meint, sich unter dem Schutzmantel parlamentarischer Mehrheiten auf die Macht des Faktischen verlassen zu können, sollte …

  • Sie sehen, wie zurückgefallene Fahrer sich versuchen, dem Feld zu nähern.

Sie sehen, wie zurückgefallene Fahrer versuchen, sich dem Feld zu nähern.

  • Wenn man sieht, wie die große Koalition sich versucht zusammenzufinden, …

Wenn man sieht, wie die große Koalition versucht, sich zusammenzufinden, …

  • Dass es nach Fehltritten Kritik gibt, und mancher sich versucht, da wieder herauszuwinden, ist nicht neu.

Dass es nach Fehltritten Kritik gibt und mancher versucht, sich da wieder herauszuwinden, ist nicht neu.

2 Drücken „sich erhoffen“ und „sich erwarten“ Selbstbezogenheit aus?


Das Reflexivpronomen „sich“ kann verraten – meist vermutlich unabsichtlich –, dass Menschen und Institutionen bei Erfolgen vor allem an sich selbst denken und nicht so sehr an ihre Auftraggeber und Geldgeber und an die Interessen, Erwartungen und Ansprüche ihrer Zielgruppen.

  • Die Wissenschaftler erhoffen sich, einzelne Berge, Täler und Krater zu erkennen.

Die Wissenschaftler hoffen, einzelne Berge, Täler und Krater zu erkennen.

  • Wichtige Erkenntnisse für Formen einfachen Lebens erhoffen sich die Wissenschaftler vom Abtauchen der NASA-Sonde in die Eispartikelwolke des Saturnmondes.

Wichtige Erkenntnisse für Formen einfachen Lebens erhoffen die Wissenschaftler vom Abtauchen der NASA-Sonde in die Eispartikelwolke des Saturnmondes.

  • Die Anhänger des türkischen Präsidenten erhoffen sich vom Kanzlerbesuch einige Zugeständnisse Berlins.

Erhoffen die Anhänger Zugeständnisse für sich oder für ihr Land?

Die Anhänger des türkischen Präsidenten erhoffen vom Kanzlerbesuch einige Zugeständnisse Berlins.

  • Die Bundesregierung erhofft sich von der Einstufung des Einbruchdiebstahls als Verbrechen eine größere abschreckende Wirkung.

Erlässt die Bundesregierung Gesetze für sich?

Die Bundesregierung erhofft von der Einstufung des Einbruchdiebstahls als Verbrechen eine größere abschreckende Wirkung.

  • Müller schafft so aber kein Vertrauen bei den Bürgern, die sich von der Regierung deutlich mehr erwartet haben.

Hier gilt zweierlei: Wähler erwarten ganz allgemein erfolgreiches Regierungshandeln, aber auch Ergebnisse, die ihnen ganz persönlich zugutekommen.

  • Der Bischof erklärte, auch er habe sich mehr von der Papstrede erwartet.
  • Von demokratischen Gemeinwesen sollte man sich Erziehung zu Mündigkeit und Toleranz erwarten.
  • Sensationelles erwartete man sich auch von Weinbergers erster Operette.
  • Die Parteispitze erwartet sich von der streitbaren Liberalen eine Stärkung der Partei im Europaparlament.
  • Der Sonderermittler erwartet sich von der Aussage belastende Beweise zum Umgang des Politikers mit geheimen Dokumenten.

Der Sonderermittler erwartet Beweise nicht für sich, sondern für den Prozess gegen den Politiker.

3 Übliches, aber entbehrliches „sich“


Bei Verzicht auf entbehrliches „sich“ werden Aussagen klarer, flüssiger und wohlklingender!

  • Alle Mitwirkenden können sich einen Parkschein beim Veranstaltungsbüro abfordern.
  • Sunniten und Schiiten sind sich in inniger Feindschaft verbunden.

Sunniten und Schiiten sind einander in inniger Feindschaft verbunden.

  • Wer nach den spezifischen Vorteilen kleinerer Firmen sucht, muss sich nur deren Selbstdarstellung genau durchlesen.
  • Als Ostdeutsche hat sie sich ihren Weg durchs parteipolitische Unterholz suchen müssen.
  • Das Fördergeld kommt Institutionen zugute, die sich neue Kompetenzen erwerben wollen.

 

4 Was „sich“ nicht möglich ist oder „sich“ nicht geschieht!


Tatsachen und Ereignisse werden vielfach gewohnheitsmäßig reflexiv geschildert, obwohl sie real nicht möglich sind oder nicht stattinden.

  • Experten gehen davon aus, dass sich die neue Variante bereits angefangen habe, zu verbreiten.

Kann eine Variante irgendeiner Art selbst etwas anfangen? Wenn ja, muss die Behauptung lauten:

Experten gehen davon aus, dass die neue Variante bereits angefangen hat, sich zu verbreiten.

  • Der Sommelier stellt den ersten Wein vor und staunt, wie schnell die Gläser sich leeren.

Diese Formulierung ist üblich, die Gläser leeren sich aber nicht selbst. Menschen trinken den Wein und leeren die Gläser!

Der Sommelier stellt den ersten Wein vor und staunt, wie schnell die Gläser geleert werden.

  • Das Projekt verdankt sich der Autorin des Berichts.

Das Projekt ist der Autorin des Berichts zu verdanken.

  • Der Trend beim Rückgang der Bau-Unfallzahlen hat sich 2022 weiter fortgesetzt.

Das ist eine aufgeblähte Formulierung. Setzt sich ein Trend selbst fort? Was ist ein „Trend beim Rückgang“? Was heißt „weiter fortgesetzt“?

Der Trend beim Rückgang der Bau-Unfallzahlen hat 2022 angehalten.

Der Rückgang der Bau-Unfallzahlen hat 2022 angehalten.

Die Bau-Unfallzahlen sind auch 2022 gesunken.

  • Aus dieser Zeit haben sich monumentale Bauwerke erhalten können.

Können sich Bauwerke selbst erhalten?

Aus dieser Zeit sind monumentale Bauwerke erhalten (geblieben).

  • Diese Erkenntnis verdankt sich vor allem strengerer Regulierung.

Diese Erkenntnis ist vor allem strengerer Regulierung zu verdanken.

  • Das Vorhaben verdankt sich dem Enthusiasmus der Unternehmensgründer.

Das Vorhaben ist dem Enthusiasmus der Unternehmensgründer zu verdanken.

  • Umso wichtiger erscheint die Klärung der Frage, wodurch sich leichte Sprache definiert.

Leichte Sprache kann sich nicht selbst definieren!

Umso wichtiger erscheint die Klärung der Frage, wie leichte Sprache definiert wird.

  • Höhlenbären verschwanden vor 25 000 Jahren, doch etwas von ihrem Erbgut hat sich gerettet.

Kann Erbgut sich selbst retten?

Höhlenbären verschwanden vor 25 000 Jahren, doch etwas von ihrem Erbgut ist erhalten geblieben.

  • Ihm gelingt es, die in den letzten Jahren sich immer weiter auseinanderentwickelten Narrative herauszuarbeiten.

Dieser Satz ist grammatisch misslungen und inhaltlich uneindeutig!

Wenn die Narrative sich selbst entwickelt haben sollen und die Entwicklung abgeschlossen sein soll, muss der Satz vervollständigt werden:

Ihm gelingt es, die in den letzten Jahren sich immer weiter auseinanderentwickelt habenden Narrative herauszuarbeiten. – Das klingt nicht gut!

Ein Nebensatz hilft: Ihm gelingt es, die Narrative herauszuarbeiten, die sich in den letzten Jahren immer weiter auseinanderentwickelt haben.

Wenn die Entwicklung andauert: Ihm gelingt es, die in den letzten Jahren sich immer weiter auseinanderentwickelnden Narrative herauszuarbeiten.

Aber: Narrative entwickeln sich nicht, sondern sie werden von Menschen bewusst oder unbewusst „entwickelt“: Ihm gelingt es, die in den letzten Jahren immer weiter auseinanderentwickelten Narrative herauszuarbeiten.

Wenn Leser dieser Betrachtungen zum unscheinbaren Reflexivpronomen „sich“ sich über vermeintliche Spitzfindigkeiten beschweren wollen (mit einem großen Stein um den Hals?), dann ist der Verfasser bereit, sich zu entschuldigen – was nach gelegentlich zu hörender Auffassung gar nicht möglich ist. Also bittet der Verfasser diese Leser richtigerweise um Entschuldigung. Und damit hat’s sich!