aus: NStPr 58/4 (2010)
1.287 Stunden, 2.887 Stunden und 215 Stunden: Hinter diesen nackten – von dem ein oder anderen Kollegen in solchen Rückblicken wenig geliebten – Zahlen der 14. Legislaturperiode des Landtags von Nordrhein-Westfalen stehen für die im bevölkerungsreichsten Bundesland tätigen Stenografen lebhafte bis hitzige politische Debatten im Plenum, in Ausschüssen und in Parlamentarischen Untersuchungsausschüssen. Wie immer galt es für uns, das gesprochene Wort zu verschriftlichen, um allen politisch interessierten Menschen die Möglichkeit zu geben, diese Debatten nachzuvollziehen.
Man könnte nun meinen, dass sich die fünf Jahre zwischen 2005 und 2010 ähnlich denen zuvor gestalteten. Könnte man! Nach 39 von der Sozialdemokratie dominierten Jahren gab es jedoch zunächst einmal leichte Verwirrung. Denn die CDU war aus der Landtagswahl im Mai 2005 mit 44,8 % als stärkste Kraft hervorgegangen und konnte mit der FDP, die 6,2 % erhalten hatte, Koalition und Regierung stellen. Wenn nach Reden von Mitgliedern dieser neuen, schwarz-gelben Regierung also urplötzlich nicht mehr die linke Seite des Hauses Beifall spendete, sondern die rechte, hatte dies immer auch hektische Kopfbewegungen der Stenografen zur Folge. Neue politische Schlagwörter wie „Koalition der Erneuerung", „Privat vor Staat" und „versprochen – gebrochen" machten die Runde. Die wollten stenografisch gekürzt werden. Außerdem öffnete sich der Landtag zunehmend für die Öffentlichkeit. Das führte im Haus vor allem an Plenartagen zu einem gewissen „Hindernislauf": herum um lecker gefüllte Gläser und appetitliche Häppchen, vorbei an Stehtischen, Stellwänden, Bühnen und beeindruckender Veranstaltungstechnik, stolpernd über wallende Gewänder und duckend unter ausladendem Kopfschmuck der den Landtag regelmäßig „heimsuchenden" Karnevalisten.
Aber selbstverständlich hatten nicht nur wir Stenografen zu lernen. Die 189 Abgeordneten der 14. Legislaturperiode – die Zahl der Wahlkreise und die gesetzliche Zahl der Landtagsmitglieder waren zuvor verringert worden – mussten gar ihre Rolle wechseln: von Mitgliedern der Koalition und der Regierung in solche der Opposition und vice versa. Das schreibt sich leichter, als es sich umsetzen lässt; denn nach langer Zeit nicht mehr nahezu jeden Gesetzentwurf und jeden Antrag mühelos durch Abstimmungen bringen zu können ist wohl mindestens ebenso gewöhnungsbedürftig wie der umgekehrte Fall. Auch auf die Fachkompetenz der Ministerien konnten plötzlich Abgeordnete anderer Couleur als zuvor zugreifen.
Dabei ging es um viele bedeutsame Themen wie die Einführung von „G8" – also des Abiturs nach der zwölften Klasse –, Kopfnoten und Studiengebühren, das Inkrafttreten des Nichtraucherschutzgesetzes und des KiBiz – bekanntlich kein Vogel, sondern die Abkürzung für Kinderbildungsgesetz, vorangetrieben vom neuen Minister für Generationen, Familie, Frauen und Integration –, das Abschaffen von Mitbestimmungsrechten im öffentlichen Dienst, die Kommunalisierung der Umwelt- und Versorgungsverwaltung, die Änderung der Gemeindeordnung zur Einschränkung der wirtschaftlichen Betätigung von Kommunen, das Umsetzen der Föderalismusreformen I und II, die Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten, die Versuche zur Rettung von Opel, BenQ und WestLB, die Reform der Abgeordnetenbezüge und den Bau des Kohlekraftwerks in Datteln. – Die vollständige Liste würde vermutlich diese Ausgabe sprengen.
Gleich zu Beginn der neuen Legislaturperiode im Jahr 2005, genauer: am Abend jenes Tages, an dem der vormalige CDU‑Fraktionsvorsitzende Dr. Jürgen Rüttgers zum Ministerpräsidenten von Nordrhein‑Westfalen ernannt worden war, kündigten der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder und der seinerzeitige SPD‑Vorsitzende Franz Müntefering in Berlin an, Neuwahlen anzustreben, zu denen es am 18. September 2005 dann auch tatsächlich kam. Mit seinen rund 18 Millionen Einwohnern, von denen mehr als 13 Millionen wahlberechtigt sind, hat Nordrhein‑Westfalen somit damals den Regierungswechsel von Rot‑Grün hin zur Großen Koalition im Bund eingeleitet.
Jetzt, nach der Landtagswahl 2010, setzt sich der Einfluss NRWs auf den Bund munter fort. Hierbei konnte der Westen Deutschlands erstmals bei einer Landtagswahl nicht lediglich eine, sondern wie bei der Bundestagswahl zwei Stimmen abgeben: die erste für den Wahlkreiskandidaten, die zweite für die Liste einer Partei. Dem Landtag gehören nunmehr fünf Fraktionen an: von CDU, SPD, Grünen, FDP und Linken, wobei weder Schwarz-Gelb noch Rot-Grün die absolute Mehrheit stellen. Nach langem Ringen um eine Koalition bilden SPD und Grüne fortan eine Minderheitsregierung, was den Verlust der schwarz‑gelben Mehrheit im Bundesrat nach sich zieht. Dort will Nordrhein‑Westfalen Einfluss nehmen unter anderem auf Pläne zur Senkung von Steuern, auf Pläne zur Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken und auf Pläne zur Einführung einer Kopfpauschale in der Krankenversicherung. Ob auch der aktuelle Machtwechsel in Nordrhein‑Westfalen zu einem ebensolchen im Bund führen wird, darf man gelassen abwarten.
Zurück in die Vergangenheit! Der Stenografische Dienst hieß in der abgelaufenen Legislaturperiode Claudia Tack – die uns nach Abschluss ihres Studiums gleich wieder verließ –, Stefan Welter und Jonas Decker als Anwärter willkommen und bildete sie für den Stenografenberuf aus. Unser Günter Labes genießt seine Elternzeit mit Frau und Töchterchen im fernen Hanoi. Für einige Kollegen endete die Telearbeit, andere konnten sie beibehalten bzw. neu aufnehmen. Wir stellen mit Franz‑Josef Eilting den einzigen Sozialen Ansprechpartner des Landtags. Heike Niemeyer engagiert sich nach wie vor im Personalrat, inzwischen als Stellvertretende Vorsitzende. Auch für unseren Berufsverband haben wir gewirkt: mit Artikeln für die NStPr, dem Prüfen der Verbandskasse und der Mitgestaltung einer Fachtagung.
Ungeachtet unseres für Laien antiquiert anmutenden Berufes nutzen wir Stenografen in Nordrhein‑Westfalen seit geraumer Zeit die digitale Aufnahmetechnik. Mit Blick auf das übergeordnete Ziel, den Landtag papierlos werden zu lassen, haben wir das papierlose Plenum eingeführt, bei dem sämtliche Dateien nur noch über Rechner abgerufen werden. Für die Protokolle der Sitzungen von Ausschüssen und anderer Gremien steht dies an. Dass die von uns verwendeten Makros und Dateivorlagen immer wieder aktualisiert und neuester Soft- und Hardware angepasst werden, ist unserem Kollegen Michael Roeßgen zu verdanken. Die zu Beginn der Legislaturperiode von der Autorin dieser Zeilen aufgefrischten Plenar- und Ausschussformalien geben unserer Arbeit weiterhin ein gut lesbares Erscheinungsbild. In Fleisch und Blut übergegangen sind auch die 2006 verbindlich gewordenen neuen Regeln der Rechtschreibung, mit denen zuvor einige Fortbildungen verbunden waren.
Dass wir sehr fleißig waren – und das auch bei extremer Lärm- und Staubbelastung aufgrund der Arbeiten am neuen Landtagsanbau, in den nach und nach Abgeordnete sowie zuvor ausgelagerte Referate der Verwaltung einziehen –, belegen die genannten Zahlen. Erwähnenswert sind neben vielen spannenden Sitzungen unserer sogenannten Stammausschüsse die beiden Parlamentarischen Untersuchungsausschüsse zu Vorgängen in der JVA Siegburg einerseits und im Umweltministerium andererseits. Insbesondere Letzterer hielt uns mit extrem häufigen, spontan einberufenen Sitzungen in Atem. Etwas Besonderes war die Protokollierung der Konferenzen der Direktoren und Präsidenten deutscher und österreichischer Parlamente in den Jahren 2006 und 2007, die unter dem Vorsitz Nordrhein‑Westfalens durchgeführt wurden und sich mit den Föderalismusreformen, der europäischen Verfassung, der Entwicklung der Abgeordnetengesetze sowie der Veränderung der Geschäftsordnungen und den damit gemachten Erfahrungen befassten. Einen weiteren Schwerpunkt bildete das Thema „Jugend und Politik", dem sich der nordrhein‑westfälische Landtag nunmehr jährlich in Form des Jugend‑Landtags widmet.
Darüber hinaus haben wir Stenografen beim Tag der offenen Tür anlässlich der Feierlichkeiten zum 60‑jährigen Bestehen von Land und Landtag im Jahr 2006 sowie beim Tag der offenen Tür im Rahmen des Weltkindertages im Jahr 2008 mit einem eigenen Stand mitgewirkt.
Nach fünf anspruchsvollen Jahren und einer umso genussvolleren Wahlpause starten wir nun in eine neue Legislaturperiode. Nordrhein‑Westfalen wird künftig erstmals von einer Ministerpräsidentin regiert: Hannelore Kraft von der SPD. Ihr zur Seite steht Sylvia Löhrmann von den Grünen. Glück auf!